Perverser Journalismus

Redakteur schreibt

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„Mann masturbiert in Essen vor zwei jungen Frauen – mit dieser Reaktion hätte er nicht gerechnet“ – Diese Headline las ich heute im Online-Portal einer großen Zeitung. Und war geschockt! Pervers ist das! Und ekelhaft! Was ist nur mit dem Journalismus los? Generationen von Redakteuren haben noch gelernt: Das Wichtigste muss an den Anfang! Man erfährt ja gar nicht sofort, was genau passiert ist. So gehört sich das aber für eine ordentliche Nachricht. Und außerdem streicht der Chef vom Dienst, sollte es an Zeilenplatz mangeln, immer von hinten weg. Für alle Klugscheißer und Ägyptologen unter uns: „Prinzip der umgekehrten Pyramide“ nennt der Fachmann das.

Hier bestätigt sich wieder, dass spätestens mit dem Einzug der Online-Medien der Chef vom Dienst von uns gegangen ist (arbeitet jetzt vermutlich als freier Lektor) und durch einen umsatzorientierten Menschen aus dem Vertrieb ersetzt wurde. Denn eines ist auch mir klar: Die Headline soll mich auf schäbigste Weise dazu verführen, auf “Weiterlesen” zu klicken – und dann haben die “Zeitungsmacher” schön ihre ganze Werbung untergebracht: Haarfärbemittel, Fertigpizza, Brillen, Gesichtscrème.

Aber ich denke gar nicht daran. Zum einen brauche ich keine Fertigpizza, zum anderen mache ich da aus Prinzip nicht mit. Ich halte eisern die Journalismus-Flagge hoch. Soll euer Cliffhanger doch abstürzen, genauso tief wie eure Klickzahlen. So eine billige Story interessiert mich eh nicht. Ich warte einfach auf die Zeitung von morgen. Denn die, die es immer noch nicht geschafft haben, das Abo zu kündigen – sie haben es übrigens nur, weil Mama damals das Waffeleisen wollte -, wissen: In der Zeitung steht immer alles das, was man schon am Tag zuvor im Internet gelesen hat – und dann auch richtig herum. Also: Ich bin raus. Gut, vielleicht frage ich später kurz meinen Nachbarn, ob er mal eben klicken kann. Ich selbst will mit so etwas wirklich nichts zu tun haben. Widerlich!

Foto: Volker Lahr